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3. Advent 1999

Thema: ... den ihr nicht kennt
Lesg./Ev.: Jes 61,1-2a.10-11; Joh 1,6.8.19-28
gehalten am 12.12.1999 10:30h ESB
von Eberhard Gottsmann, OStR

Lesung Jes 61,1-2a.10-11

61,1 Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, 2 damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
10 Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt. 11 Denn wie die Erde die Saat wachsen läßt und der Garten die Pflanzen hervorbringt, so bringt Gott, der Herr, Gerechtigkeit hervor und Ruhm vor allen Völkern.

Evangelium Joh 1,6.8.19-28

1,6 Es trat ein Mensch auf, der von Gott gesandt war; sein Name war Johannes. 8 Er war nicht selbst das Licht, er sollte nur Zeugnis ablegen für das Licht.
19 Dies ist das Zeugnis des Johannes: Als die Juden von Jerusalem aus Priester und Leviten zu ihm sandten mit der Frage: Wer bist du?, 20 bekannte er und leugnete nicht; er bekannte: Ich bin nicht der Messias. 21 Sie fragten ihn: Was bist du dann? Bist du Elija? Und er sagte: Ich bin es nicht. Bist du der Prophet? Er antwortete: Nein. 22 Da fragten sie ihn: Wer bist du? Wir müssen denen, die uns gesandt haben, Auskunft geben. Was sagst du über dich selbst? 23 Er sagte: Ich bin die Stimme, die in der Wüste ruft: Ebnet den Weg für den Herrn!, wie der Prophet Jesaja gesagt hat.
24 Unter den Abgesandten waren auch Pharisäer. 25 Sie fragten Johannes: Warum taufst du dann, wenn du nicht der Messias bist, nicht Elija und nicht der Prophet? 26 Er antwortete ihnen: Ich taufe mit Wasser. Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt 27 und der nach mir kommt; ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. 28 Dies geschah in Betanien, auf der anderen Seite des Jordan, wo Johannes taufte.

Predigt

Liebe Christen!

Vor wenigen Tagen wurde ein Kurskollege von Pfarrer Uschold zu Grabe getragen, den auch ich gut kannte. Bis auf einen Tag genau gleich alt wie ich, waren wir über einige Jahre im Priesterseminar beisammen. Auch nach seiner Weihe ist der Kontakt nicht völlig abgerissen, so daß ich auf die in den letzten Tagen häufige Frage: „Hast Du ihn gekannt" öfters antworten konnte: „Natürlich, sehr gut sogar!"

Bei der Predigtvorbereitung bin ich auf den Satz gestoßen: „Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt." Sofort mußte ich an den Verstorbenen denken, von dem ich immer der Meinung war, daß ich ihn gut kannte. Stimmt das wirklich? Was wußte ich schon von ihm? Daß er schon zu Seminarzeiten ein kraftvoller und begeisterter Fußballspieler war - daß er einen vernünftigen Standpunkt zum Leben und Glauben hatte - daß er mit den Leuten gut umgehen konnte - ich kannte einige Anekdoten über ihn, und dann war schon Schluß.

Kannte ich ihn damit wirklich? Kannte ich seine Ängste, seine Zweifel, seine innersten Gedanken? Kannte ich seine Reaktion in kniffligen Situationen oder in einfühlsamen Gesprächen mit Hilfesuchenden?

Ich bin schließlich zu dem Ergebnis gekommen, daß ich im Grunde überhaupt nichts von ihm wußte.

Ich erinnere mich an einen Ausspruch meines Vaters, der ein paar Monate vor seinem Tod meinte: „Jetzt bin ich mit Deiner Mutter schon 50 Jahre verheiratet und kenne sie immer noch nicht." Natürlich spielte er damit humorvoll auf eine gewisse Unberechenbarkeit meiner Mutter an, aber im Grunde hatte er recht. Wer kann schon sagen, daß er einen anderen Menschen wirklich kennt?

Und trotzdem bilden wir uns immer wieder ein, andere genau zu kennen. „Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria, und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Leben nicht alle seine Schwestern unter uns? Woher also hat er das alles? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab." So heißt es bei Mattäus, als Jesus in seine Heimatstadt Nazaret kommt und in der dortigen Synagoge predigt. Und dadurch, daß ihn alle zu kennen glauben, begeben sie sich der Möglichkeit, ihn wirklich kennen zu lernen.

„Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt." sagt Johannes.

In der Tat: nach anfänglicher Begeisterung fallen ganze Menschenmassen von Jesus ab. Er entspricht einfach nicht ihren Erwartungen und Voreinstellungen. Diese Menschen hätten sehen können, wären ihre Augen geöffnet gewesen - aber sie hatten Jesus bereits in eine Denkschublade gesteckt.

Auch Natanael, vom ehemaligen Johannesschüler Philippus begeistert auf Jesus hin angesprochen, glaubt ihn schon zu kennen: „Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen?" (Joh 1,46).

Bis heute hat sich da nicht viel geändert: die einen sehen Jesus als Sozialrevolutionär, die anderen als den Vorreiter der Emanzipation, und wieder andere mißbrauchen ihn als Garanten ihrer religiösen und moralischen Macht. Wie viele Hirne, so viele Jesusbilder.

Jesus ist da kein Sonderfall; im Grunde geht es uns allen so: noch bevor wir die Chance bekommen, „uns zu offenbaren", steht die Meinung über uns schon fest. Am schlimmsten ist das bei Menschen, die uns nur vom Hörensagen kennen - da steht häufig längst fest, was sie von uns zu halten haben, selbst wenn sie uns dann von einer ganz anderen Seite her kennen lernen könnten. Und noch schlimmer: in solchen Fällen wird jedes Wort, jede Handlung von dieser vorgefaßten Sicht her gefiltert, und Erfahrungen, die das Gegenteil bezeugen, werden einfach ignoriert. „ Augen haben sie und sehen nicht; Ohren haben sie und hören nicht." (Jer 5,21) klagt schon der Prophet Jeremia. In der Tat: der Mensch kann trotz guten Sehvermögens blind sein, wenn er einfach nicht sehen will.

Als der bekannte Gelehrte Galileo Galilei die vier Jupitermonde entdeckt hatte, hielt er in Pisa im Beisein der Universitätsprofessoren einen Vortrag darüber. Die Professoren sind wütend. Die Jupitermonde können gar nicht existieren, weil es am Himmel nicht mehr als sieben bewegliche Objekte geben kann, denn sieben ist eine heilige Zahl! Außerdem hätten die Astrologen in ihren Horoskopen bereits alles berücksichtigt, was sich am Himmel bewege. So dienten die „Mediceischen Gestirne", wie man die Monde damals nannte, zu nichts - und da alles, was existiere, zu etwas nutze sei, existierten diese Gestirne auch nicht.

Und das Fernrohr als Beweis? Der bedeutendste der Professoren, Giulio Libri, weigerte sich einfach, hindurchzuschauen. Argument: Aristoteles erwähnt niemals ein Fernrohr. Aber weil er sehr gelehrt war, hätte er es selbstverständlich gekannt, ja, sogar ein viel besseres gebaut! Also ist das Fernrohr unnütz und trügerisch.

Selbst die Kollegen Galileis, die bereit waren, durch das Fernrohr zu schauen, erklären das Gesehene für Trugbilder.

Die besten Augen nützen nichts, wenn man nicht sehen will. Die größten Bemühungen fruchten nicht, wenn der andere bereits eine feste Meinung hat!

Daher mein Appell an uns alle: seien wir offen füreinander. Verzichten wir auf Denkschablonen, so bequem sie auch sein mögen! Seien wir uns bewußt, daß man andere niemals völlig kennen kann! So, und nur so, werden wir durch jede Begegnung bereichert und vor allem: nur so werden wir der einmaligen, niemals auslotbaren Persönlichkeit anderer Menschen gerecht.

AMEN

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