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30. Jahressonntag

Thema: Das Zentrum der hl. Schrift
Lesg./Ev.: Mt 22,34-40
gehalten am 23.10.99 um 19:00h und 24.10.99 um 10:30h in Eschenbach
von Eberhard Gottsmann, OStR

Evangelium Mt 22,34-40

34 Als die Pharisäer hörten, daß Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie (bei ihm) zusammen. 35 Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn:
36 Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? 37 Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. 38 Das ist das wichtigste und erste Gebot. 39 Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. 40 An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.

Predigt

Liebe Christen!

Es dürfte für die meisten von Ihnen kein Geheimnis sein, daß viele Begebenheiten, die Mattäus erzählt, auch bei Markus zu finden sind. Der Grund: Mattäus hat von Markus abgeschrieben! Ja mehr noch: er hat das ältere und ursprünglichere Markusevangelium zum Grundstock seines Evangeliums gemacht. Dabei hat er manches ergänzt (wie beispielsweise die Kindheitsgeschichten oder manche Aussprüche Jesu), er hat aber auch vieles verändert oder in einen anderen Zusammenhang gestellt.

Die heutige Schriftstelle ist dafür ein Beispiel. Auch bei Markus mischt sich ein Schriftgelehrter in die Diskussion ein, aber im Gegensatz zu Mattäus nicht deshalb, „um ihn zu versuchen", also eine Falle zu stellen, sondern weil ihm gefiel, wie Jesus argumentiert hatte und er daher eine brennende Frage beantwortet haben wollte.

Auch hier unterscheiden sich die beiden Evangelisten; während der Rabbi bei Markus nach dem ersten Gebot fragt, will er bei Mattäus das größte Gebot genannt haben. Beides trifft aber wohl das Gemeinte nicht ganz: in Wirklichkeit dürfte der Gelehrte nach der „kelal gadol ba Torah", der Mitte, dem Zentrum der Heiligen Schrift gefragt haben, ein Begriff, der eine wichtige Rolle in der rabbinischen Diskussion spielte.

Jesus antwortet mit einem Schriftwort aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 6,4-9), das man mit Recht als einziges Dogma des Judentums bezeichnen kann. Morgens und abends hat es jeder Jude zu beten. Es befindet sich auch in der Mesusa, einer kleinen Kapsel am rechten Türpfosten, die beim Betreten oder Verlassen des Hauses mit der Hand berührt wird. Es steckt ferner in der Kapsel der tefillim, der Gebetsriemen, das der fromme Jude an der Stirn und am linken Oberarm in Richtung des Herzens trägt. Es handelt sich um das „schema Israel" - das „Höre, Israel, der Ewige ist unser Gott; der Ewige ist All-Einig!"

Im Gegensatz zu Markus hat Mattäus diese einleitenden Worte weggelassen und nur das Kernstück erwähnt, nämlich Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, mit ganzer Vernunft zu lieben. Den Zusatz „und mit deiner ganzen Kraft" streicht er ebenfalls.

Kein frommer Jude, weder damals noch heute, würde da Jesus widersprechen. Das „schema Israel" ist tatsächlich die Mitte, das Zentrum des jüdischen Glaubens - und darüber hat es niemals auch nur eine Diskussion gegeben.

Aber Jesus endet nicht damit. Sogleich - wie wenn der folgende Satz mit dem ersten untrennbar verbunden wäre - fügt er ein Zitat aus dem Buch Levitikus (Lev 19,18) hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!" Und wie zur Bestätigung, daß das eine nicht ohne das andere sein darf, sagt er abschließend: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten" - also Tora und Nebiim.

Während nun Jesus bei Mattäus zu einem anderen Thema übergeht - er fragt die Pharisäer nach dem Messias - gibt es bei Markus noch ein Nachspiel.

Der Schriftgelehrte reagiert ganz begeistert: „Prima, toll, das stimmt genau!" Und er fügt noch hinzu: „Das ist viel mehr als alle Brandopfer und alle anderen Opfer!" (1 Sam 15,22). Er hat Jesus wirklich verstanden! Und so sagt dieser anerkennend: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes!"

Was ist es aber, was der sympathische Schriftgelehrte verstanden hat (und viele andere vermutlich nicht)?

Es ist der unlösbare Zusammenhang dieser beiden Aussagen! Gottesliebe ohne Selbst- und Nächstenliebe kann es nicht geben. Es gilt aber auch umgekehrt: rechte Selbstliebe und echte Nächstenliebe ist ohne Gottesliebe unmöglich!

Mehrere Mißverständnisse gilt es zu beseitigen, um diese zentrale Aussage Jesu richtig zu verstehen:

Erstens ist „Liebe" nicht das gleiche wie „Sex" oder „Eros", wenngleich sie in diesem Zusammenhang oft mißbraucht und ohne Unterschied gleichgesetzt wird. Es ist wichtig, daß Liebe zur Sexualität hinzukommt - aber es kann sehr wohl Sex ohne Liebe geben: sozusagen nur auf körperlicher Ebene. Und daß auch „Eros", das seelische Angezogensein, der „seelische Gleichklang", nicht dasselbe wie Liebe ist, kann man daran ersehen, daß wirkliche Liebe auch dann noch anhält (oder sogar wachsen kann), wenn die Attraktivität eines oder einer Geliebten im Schwinden ist.

Zweitens ist Liebe nicht das gleiche wie „Gefühl". Zwar ist Liebe meist mit körperlichen und seelischen Gefühlen eng verbunden, aber sie ist nicht das Gefühl. „Liebe hat Gefühl, aber Liebe ist nicht Gefühl" (E. Gruber). Liebe umfaßt den ganzen Menschen: also auch Vernunft und Willen! Anders könnte man ja einen ekelhaften Menschen, für den man beim besten Willen keine angenehmen Gefühle aufbringen kann, gar nicht lieben.

Drittens kann kein Mensch „Liebe erzeugen". Könnte man das, wären wir nicht so sehr auf die Zuneigung und Anerkennung anderer angewiesen. Nein, Liebe ist ein Drittes zwischen zwei Menschen (oder anderen Geschöpfen): es ist die „Bindekraft" oder „Mögekraft", die für uns Christen mit Gott selbst identisch ist. Er ist es, der in der Liebe liebt; er ist es, der heil und ganz macht - er selbst, die unerschöpfliche, ewige Quelle der Liebe.

Wenn wir uns schwer tun, ganz zu verstehen, was Jesus meint, weil wir selbst noch nie wirkliche, selbstlose Liebe erfahren haben, kann es uns helfen, immer wieder Jesus zu betrachten: in seinem Umgang mit den Mitmenschen, in seinen heilenden Worten und Handlungen, und schließlich in seinem Verbluten am Kreuz, in dem er gezeigt hat, daß Liebe bis zum Letzten geht.

Durch ihn, aber in geringerem Maße auch durch alle Geschöpfe, können wir Gott, die absolute Liebe, erfahren.

Erst dann, wenn ich mich unendlich von Gott geliebt weiß (und zwar so, wie ich bin, mit allen Fehlern und Schwächen), kann ich mich selber annehmen, wie ich bin; ich kann mich selber „leiden".

Und als Folge kann ich schließlich auch andere lieben. Denn im Gefühl, ganz und gar angenommen zu sein, muß ich auch andere nicht mehr „verdammen", heruntermachen - dann kann ich die unverdient empfangene Liebe auch an andere weitergeben!

Das ist der „kelal gadol ba Torah", der Kern, das Zentrum auch des Christentums!

AMEN

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