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14. Jahressonntag 2000

Thema: Vorurteil - Feind der Wahrheit
Lesg./Ev.: Mk 6,1-6b
gehalten am 09.07.2000 10:30h in ESB
von Eberhard Gottsmann, OStR

Evangelium nach Markus

6,1 Von dort brach Jesus auf und kam in seine Heimatstadt; seine Jünger begleiteten ihn. 2 Am Sabbat lehrte er in der Synagoge. Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, staunten und sagten: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist! Und was sind das für Wunder, die durch ihn geschehen! 3 Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab. 4 Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie. 5 Und er konnte dort kein Wunder tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie. 6 (a) Und er wunderte sich über ihren Unglauben.

Predigt

Liebe Christen!

„Manche Menschen sind so von sich überzeugt, daß sie ihren engen Horizont für den Horizont der Welt halten" - diese Redensart fiel mir ein, als ich vor einiger Zeit mit einem jungen Mann diskutiert habe. Auf meinen Vorwurf, er sei stur wie ein Panzer, hatte er geantwortet: „Ich ändere nur dann meine Meinung, wenn der andere mit der Wahrheit übereinstimmt." „Ja, mit DEINER Wahrheit" war meine Entgegnung, und damit war das Gespräch zu Ende, denn an einer Mauer von Vor-Einstellungen, Vor-Urteilen und Vor-Wänden prallen alle Argumente ab.

Im heutigen Evangelium geht es um genau das gleiche Thema. Dabei scheint es zunächst recht hoffnungsvoll zu beginnen: die Menschen von Nazaret, dem Heimatdorf Jesu, sind zunächst von „ihrem Jesus" recht angetan. Sie hören ihm aufmerksam zu, geraten förmlich ins Staunen und wundern sich über seine Fähigkeiten. Man könnte direkt stolz auf ihn sein, den „berühmten Sohn der Stadt Nazaret".

Aber da schiebt sich gleichsam ein Brett vor das Hirn, bestehend aus Vor-Urteilen und Vor-Behalten. „Ist das nicht der Bauhandwerker (tektón), den wir von Kindheit an kennen? Kennen wir nicht seine Familienverhältnisse, seine Verwandtschaft und seinen Werdegang im Detail?" Und schon kann man ihn herunterholen auf das eigene Niveau. „Dann kann er nichts Besonderes sein - er ist einer wie wir!"

Was ist da geschehen? Wie kann die anfängliche Bewunderung so plötzlich in Ablehnung umschlagen?

Ist es derselbe Neid, der Lehrerkollegen zum Spotten bringt, weil einer aus ihrer Mitte den Doktortitel erworben hat oder einen Karrieresprung macht? Oder die Mißgunst, die Pfarrer auf einmal über einen Amtsbruder herziehen läßt, weil der Weihbischof oder Bischof wurde?

Oder sind es die Minderwertigkeitsgefühle, die in uns allen stecken, die uns nicht ertragen lassen, daß jemand anderer uns überragen könnte?

Oder sind es einfach unsere Vor-Eingenommenheiten und Vor-Urteile, die sich wie ein Filter vor unsere Wahrnehmung schieben?

Wer auch nur ein wenig selbstkritisch ist, muß zugeben, daß er sehr dazu neigt, seine Meinung für die einzig wahre zu halten. Meine „Wahrheit" ist die absolute Wahrheit - und daher muß sie auch für alle anderen gelten.

Wenn aber die etwas anderes für richtig halten, dann befinden sie sich halt einfach im Irrtum. Ich habe recht - und wenn ich genügend Macht besitze, dann zwinge ich euch, meine Wahrheit zu übernehmen.

- Die achzigjährige Mutter, die glaubt, ihrer 60jährigen Tochter immer noch sagen zu müssen, wie man den Haushalt zu führen hat;
- der Amtsnachfolger, der alles ändern muß, weil sein Vorgänger nichts richtig gemacht hat;
- der pensionierte Fabrikdirektor, der täglich in der Firma auftaucht, um wieder einmal festzustellen, daß alles falsch läuft;
- der Lehrling, der alles besser weiß als sein erfahrener Meister;
- der Ehemann, der von seiner Angetrauten verlangt, daß alles so laufen muß, wie er es von Muttern her gewohnt ist;

jeder hält seine Meinung für die einzig richtige und kommt gar nicht auf die Idee, daß auch er nur GLAUBT, daß er im Besitz der absoluten Wahrheit sei.

Besonders verhängnisvoll wird die Sache, wenn diese Voreingenommenheiten und Vor-Urteile den Zugang zu Gott verbauen. Selbst ihm wollen wir vorschreiben, was er tun müßte, wie er zu sein hätte. Und so verhindern wir, daß Gott durch Jesus bei uns „ankommen" kann. Die heutige Perikope zeigt das deutlich: im Grunde beschränkt sich die Ablehnung der Nazarener nicht auf Jesus allein, sondern auch auf das, was er über Gott zu sagen weiß. Man müßte ihm vertrauen, um vorbehaltslos offen zu werden für die immer neuen Überraschungen, die Gott für uns bereithält.

- Beispielsweise, daß Gott nicht auf Leistungen oder Riten schaut, sondern uns ohne jede Bedingung liebt.
- Oder daß Gott unser Leid nicht verhindert, sondern uns im Leiden begegnet.
- Oder daß es Gott nicht auf Rang und Reichtum ankommt, sondern allein auf ein bereites, liebendes Herz.
- Oder daß Gott kein Marionettenspieler ist, sondern die Menschen in Freiheit leben läßt.
- Oder schließlich, daß Gott kein Paragraphenhengst ist, der wie ein Polizist unser Leben überwacht, sondern Gesetze nur als Krücken, als Wegweiser gegeben hat, um die Menschen zum Glück und zur Liebe zu führen.

Wer es aber schafft, wie Natanael („Kann denn aus Nazaret etwas Gutes kommen?") die anfängliche Voreingenommenheit zu überwinden, einfach offen „zu kommen und zu sehen", der wird bald auf die Spur zu einer neuen Wahrheit stoßen, die nicht menschlicher Vernunft und menschlichen Denkschablonen entspricht, sondern die ein Teil der göttlichen, befreienden und frohmachenden Wahrheit ist.

Dann erst erkennt man, daß auch andere an der unergründlichen göttlichen Wahrheit teilhaben, auch wenn sie scheinbar nicht mit meiner Teilwahrheit übereinstimmen.

Zur Illustration schließe ich mit einem bekannten Gleichnis Buddhas, das wir uns immer mal wieder in Erinnerung rufen sollten:

Eine Gruppe von Blinden stößt auf einen Elefanten. Sofort betastet jeder das riesige Tier, um herauszufinden, was so ein Elefant eigentlich ist.
Der eine, der das Vorderbein erwischt hat, ruft: „Ein Elefant, das ist eine große, rauhe Säule!" „Falsch!" schreit ein anderer, der den Schwanz betastet, „ein Elefant ist ein langer, biegsamer Pinsel!" „Unsinn!" schreit ein dritter, „er ist ein dicker, beweglicher Schlauch!" und streicht dabei über den Rüssel. „Ihr lügt!" läßt sich der nächste vernehmen, der den Zahn erwischt hat, „ein Elefant ist eine lange, harte, gebogene Stange!". Und als ein weiterer gar die Ohren abtastet und behauptet, der Elefant sei ein riesiges Palmblatt, kommt eine wüste Schlägerei in Gang. Jeder Blinde ist überzeugt, die ganze Wahrheit über den Elefanten herausgefunden zu haben - und hat doch nur ein kleines Stück der Wahrheit erfaßt.

AMEN

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