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Ostermontag 2000

Thema: Das Aha-Erlebnis
Lesg./Ev.: Lk 24,13-35
gehalten am 24.04.00 10:30h ESB
von Eberhard Gottsmann, OStR

Evangelium

Lk 24,13 Am gleichen Tag waren zwei von den Jüngern auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus, das sechzig Stadien von Jerusalem entfernt ist. 14 Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte. 15 Während sie redeten und ihre Gedanken austauschten, kam Jesus hinzu und ging mit ihnen. 16 Doch sie waren wie mit Blindheit geschlagen, so daß sie ihn nicht erkannten. 17 Er fragte sie: Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Da blieben sie traurig stehen, 18 und der eine von ihnen - er hieß Kleopas - antwortete ihm: Bist du so fremd in Jerusalem, daß du als einziger nicht weißt, was in diesen Tagen dort geschehen ist? 19 Er fragte sie: Was denn? Sie antworteten ihm: Das mit Jesus aus Nazaret. Er war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk. 20 Doch unsere Hohenpriester und Führer haben ihn zum Tod verurteilen und ans Kreuz schlagen lassen. 21 Wir aber hatten gehofft, daß er der sei, der Israel erlösen werde. Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seitdem das alles geschehen ist. 22 Aber nicht nur das: Auch einige Frauen aus unserem Kreis haben uns in große Aufregung versetzt. Sie waren in der Frühe beim Grab, 23 fanden aber seinen Leichnam nicht. Als sie zurückkamen, erzählten sie, es seien ihnen Engel erschienen und hätten gesagt, er lebe. 24 Einige von uns gingen dann zum Grab und fanden alles so, wie die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber sahen sie nicht. 25 Da sagte er zu ihnen: Begreift ihr denn nicht? Wie schwer fällt es euch, alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. 26 Mußte nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen? 27 Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht. 28 So erreichten sie das Dorf, zu dem sie unterwegs waren. Jesus tat, als wolle er weitergehen, 29 aber sie drängten ihn und sagten: Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt. Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben. 30 Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen. 31 Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr. 32 Und sie sagten zueinander: Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloß? 33 Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück, und sie fanden die Elf und die anderen Jünger versammelt. 34 Diese sagten: Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen. 35 Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach.

Predigt

Liebe Christen!

Sie alle kennen Menschen, die eine lange Leitung haben. Da erzählt man einen Witz - alles lacht - nur diese Dieselgehirne grübeln und grübeln, bis endlich auch bei ihnen der Groschen gefallen ist und sie schallend loslachen. Dann passiert es, daß die anderen nochmals lachen, aber diesmal nicht wegen der Pointe, sondern wegen dieser wandelnden Zeitzünder.

Etwas ähnliches meint Christian Morgenstern:

Korf erfindet eine Art von Witzen,
die erst viele Stunden später wirken.
Jeder hört sie an mit Langerweile.
Doch als hätt ein Zunder still geglommen,
wird man nachts im Bette plötzlich munter,
selig lächelnd wie ein satter Säugling.

Nicht nur bei Witzen kennen wir solche „Aha-Erlebnisse".

Fünfmal schon habe ich die Gebrauchsanweisung für meinen neuen Dosenöffner durchstudiert - da plötzlich habe ich den Dreh kapiert! Es funktioniert tatsächlich!

Oder ich lese seit Jahren immer wieder mal ein bestimmtes, wichtiges Buch, und glaube, daß der Inhalt mir ziemlich geläufig ist - und eines Tages entdecke ich einen Satz, der mir eine völlig neue Erkenntnis vermittelt.

Am häufigsten passiert mir dieser Effekt, wenn ich Bibelstudien betreibe. Jahrelang habe ich über einen Satz hinweggelesen, bis mir plötzlich blitzartig ein neuer Zusammenhang klar wird. Und hin und wieder kann es sein, daß mir dadurch eine völlig neue Sichtweise geschenkt wird, die alles bisher Geglaubte in ein anderes Licht rückt.

Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, daß solche „Aha-Effekte" am ehesten im Gespräch mit anderen auftauchen. Vielleicht drehte sich die Diskussion schon lange Zeit im Kreis, da sagt irgend einer ein Stichwort - und schon taucht die Lösung auf!

Den beiden Emmaus-Wanderern scheint es ähnlich ergangen zu sein. Die Ereignisse der letzten beiden Tage haben sie völlig verwirrt; sie können nichts mehr auf die Reihe bekommen. Dieser Jeschua aus Nazaret war doch so überzeugend! Alles, was er über Gott sagte, leuchtete so unmittelbar ein - und vor allem: es wirkte so befreiend und frohstimmend! Er war kein Typ wie die Schriftgelehrten, die immer nur fremde Autoritäten zitierten; wenn er etwas sagte, dann kam das aus innerer Überzeugung und Vollmacht - man konnte förmlich spüren, daß seine Worte und Taten von Gott selbst kommen mußten.

Und dann die Katastrophe! Entsetzlich genug, daß er auf so brutale Weise ums Leben kommen mußte. Noch viel schlimmer aber ist etwas anderes: die Kreuzigung ist der Beweis, daß Gott mit diesem Menschen nichts zu tun haben will, ja, daß er ihn sogar verflucht hatte. Jeder bibelkundige Jude weiß, was im Buch Deuteronomium steht (Dtn 21,23): „Ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter!" Wir sind vielfach Betrogene; viele von uns haben ihre ganze Lebensweise umgekrempelt, um mit diesem Betrüger durch Galiläa und Judäa zu wandern, manche sind jetzt sogar in akuter Lebensgefahr, weil sie als Anhänger dieses Volksverführers und Ketzers bekannt sind, und wir alle sind in unseren Hoffnungen betrogen, in den Hoffnungen auf eine Befreiung Israels und in den Hoffnungen auf eine Erlösung durch Gott.

Was aber am Verwirrendsten ist: hat uns denn unsere Menschenkenntnis so im Stich gelassen? Wir hatten alle das Gefühl: dieser Mensch ist die Liebe selbst, ist einfühlsam und mitleidsvoll, uneingennützig und steht treu zu seinen Prinzipien. Er hat in uns die guten Seiten geweckt; er hat uns sogar gestattet, Fehler zu machen in der Überzeugung, daß Gott uns immer und immer wieder verzeiht. Wenn das kein vor Gott „Gerechter" war! Aber allem Anschein nach muß er doch ein Sünder gewesen sein. Uns war immer schon unwohl, als er die ehernen Gesetze des Mose übertrat, indem er mit Sündern speiste, indem er Aussätzige berührte, indem er am Sabbat heilte. Vor allem: war das nicht eine schwere Sünde, daß er die Amtskirche - will sagen, die Mitglieder des Hohen Rates - so vehement beschimpfte? Schlimmer noch: er plädierte sogar dafür, den Tempelkult mit seinen Schlachtopfern abzuschaffen, und behauptete kühn, man brauche den Tempel bald nicht mehr, weil man zu Gott unmittelbar Kontakt aufnehmen könne.

Ich kann das einfach nicht verstehen: ein so liebenswerter, selbstloser Mensch - und doch ein Ketzer, ein Exkommunizierter, ja, ein von Gott Verstoßener!

So etwa stelle ich mir die Gedankengänge der beiden Männer vor, als sie auf dem Weg nach Emmaus - vermutlich das heutige Amwas - waren. Ihr seit Kindheit eingeimpftes jüdisches Denken ließ sie keinen Ausweg sehen: wer so von Gott bestraft wird, kann nicht sein „Sohn" sein, also in seinem Sinne gelebt haben. Vom Verstand her ist die Sache klar; aber das Herz sträubt sich mit aller Macht gegen diese Erkenntnis. Den Kopf kann selbst die Erklärung, die der Fremde ihnen anhand der Schrift gab, nicht überzeugen - erst die Mahlgemeinschaft, das Symbol der liebenden Verbindung, ließ das Herz schließlich siegen, lieferte das „Aha-Erlebnis"! „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt" sagt Blaise Pascal. Oder wie Antoine de Saint-Exupéry meint: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar". Gott hat diesen Menschen doch bestätigt! Es ist also doch wahr, was er durch sein ganzes Leben bezeugt hat!

Wir haben das Naheliegendste nicht sehen können, weil Ideologie unser Denken blockiert hat: der Tod Jesu war nicht Strafe Gottes, sondern die Konsequenz seiner Treue, seiner göttlichen Liebe, die niemals klein beigibt, was wir Menschen ihr auch immer antun!

Liebe Christen!

Emmaus wiederholt sich auch bei uns in immer neuen Variationen. Wo immer Menschen gemeinsam auf der Suche sind, wo sie den „wahren Glauben" finden wollen, vorausgesetzt, sie sind auch für neue Erkenntnisse offen, dort ist auch Christus zugegen. Er ist es, der ihnen schließlich hilft, zu begreifen und zu glauben. Und da kann es geschehen, daß man die ganze traditionelle Lehre plötzlich in einem neuen Licht sieht, und daß der verordnete, aufgepfropfte Glaube zu einer eigenen Überzeugung wird, die einen trägt und von niemandem mehr genommen werden kann. Dann brennt auch uns „das Herz in der Brust", weil uns wie ein „Aha-Effekt" aufgeht: der Herr ist mitten unter uns!

AMEN

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