Zurück zur Predigtsammlung

Stephanus 1998

Thema: Urkirche - ein Herz und eine Seele?

Lesg./Ev.: Apg 6, 8-10; 7,54-60

gehalten am 26.12.1998 um 9:00h ESB von Eberhard Gottsmann, OStR

Lesung:

Apg 6:1 In diesen Tagen, als die Zahl der Jünger zunahm, begehrten die Hellenisten gegen die Hebräer auf, weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung übersehen wurden. 2 Da riefen die Zwölf die ganze Schar der Jünger zusammen und erklärten: Es ist nicht recht, daß wir das Wort Gottes vernachlässigen und uns dem Dienst an den Tischen widmen. 3 Brüder, wählt aus eurer Mitte sieben Männer von gutem Ruf und voll Geist und Weisheit; ihnen werden wir diese Aufgabe übertragen. 4 Wir aber wollen beim Gebet und beim Dienst am Wort bleiben. 5 Der Vorschlag fand den Beifall der ganzen Gemeinde, und sie wählten Stephanus, einen Mann, erfüllt vom Glauben und vom Heiligen Geist, ferner Philippus und Prochorus, Nikanor und Timon, Parmenas und Nikolaus, einen Proselyten aus Antiochia. 6 Sie ließen sie vor die Apostel hintreten, und diese beteten und legten ihnen die Hände auf. 7 Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger in Jerusalem wurde immer größer; auch eine große Anzahl von den Priestern nahm gehorsam den Glauben an. 8 Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk. 9 Doch einige von der sogenannten Synagoge der Libertiner und Zyrenäer und Alexandriner und Leute aus Zilizien und der Provinz Asien erhoben sich, um mit Stephanus zu streiten; 10 aber sie konnten der Weisheit und dem Geist, mit dem er sprach, nicht widerstehen. 54 Als sie das hörten, waren sie aufs äußerste über ihn empört und knirschten mit den Zähnen. 55 Er aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen 56 und rief: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. 57 Da erhoben sie ein lautes Geschrei, hielten sich die Ohren zu, stürmten gemeinsam auf ihn los, 58 trieben ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Die Zeugen legten ihre Kleider zu Füßen eines jungen Mannes nieder, der Saulus hieß. 59 So steinigten sie Stephanus; er aber betete und rief: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! 60 Dann sank er in die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Nach diesen Worten starb er. 8:1 Saulus aber war mit dem Mord einverstanden. An jenem Tag brach eine schwere Verfolgung über die Kirche in Jerusalem herein. Alle wurden in die Gegenden von Judäa und Samarien zerstreut, mit Ausnahme der Apostel. 2 Fromme Männer bestatteten Stephanus und hielten eine große Totenklage für ihn.

Predigt

Liebe Christen!

Am heutigen Fest, dem Fest des heiligen Stephanus, stört mich so einiges. Nicht nur, daß es die schöne Weihnachtsstimmung so jäh unterbricht, mich stört auch, daß schon von Anfang an im Christentum Spaltungen und Ausgrenzungen zu finden sind, und außerdem ist nicht ganz koscher, wie Lukas, der Autor dieser Geschichte, mit den Tatsachen umgeht.

Aber der Reihe nach! Was war damals eigentlich los?

Man hat herausgefunden, daß es damals in Jerusalem nicht nur die aramäisch sprechenden Judenchristen gab, die von den Zwölfen geleitet wurden, sondern auch einen ziemlich selbständigen Gemeindeteil von sogenannten „Hellenisten". Auch diese Leute waren Juden, aber sie waren erst vor einiger Zeit aus dem Ausland, dem griechischen Sprachraum gekommen. Sie waren sehr viel liberaler als die Gesetzestüftler von Jerusalem und scheinen auch entsprechende Kritik an deren Gesetzesauslegung und Tempelkult geübt zu haben. Und das mußte Ärger mit der religiösen Behörde geben!

Auch als manche von ihnen dann Christen wurden, behielten sie diese kritische Einstellung bei. Diese Gruppe - so nimmt man heute an - wurde von einem Siebenergremium, eben den sieben „Diakonen", geleitet und nicht von den zwölf Aposteln! (Wobei zu bemerken ist, daß damals „Diakon" noch keineswegs eine Vorstufe zur Priesterweihe oder eine „Weihestufe" war, sondern eben der Titel dieses Leitungsteams!) Zu dieser Teilgemeinde gehörten übrigens auch Griechen, die als „Proselyten" zwar keine Juden wurden, aber mit deren Religion sympatisierten und die ebenfalls zum Christentum übergetreten waren. Nebenbei bemerkt: alle sieben „Diakone" tragen griechische Namen - auch das zeigt, daß sie allesamt Hellenisten waren.

Lukas, selber Hellenist, hat nun höchstes Interesse daran, daß dieses Gremium gut dasteht, denn zu seiner Zeit war die Mission unter den Heiden schon weit fortgeschritten - natürlich geprägt von hellenistischem Denken! Und diese Variante des Christentums fand immer wieder scharfe Kritik bei den konservativen Judenchristen. Deshalb läßt Lukas die Arbeit dieses Leitungsteams von den Aposteln persönlich autorisiert sein! Dadurch vertuscht er aber, daß es gerade deshalb Konflikte zwischen den beiden Christengemeinden gab, weil sie sozusagen als Konkurrenten der Aposteln empfunden wurden. Der Konflikt wegen der vernachlässigten Witwenversorgung ist da nur eine Folge, und nicht etwa die Ursache.

Lukas tut auch so, als seien sie nicht zum Predigen bestellt worden, sondern sozusagen nur als Caritasdirektoren. In Wirklichkeit war es aber anders: sie waren, wie gesagt, schon vorher Vorsteher der hellenistischen Gemeinde, hatten bereits vorher das Wort Gottes verkündet und hatten schon vorher für die Armen gesorgt! Und tatsächlich: dauernd ist in der Apostelgeschichte die Rede vom Predigen dieser Diakone, obwohl doch das Lehramt, das Verkündigen ausschließlich den Aposteln vorbehalten war!! Aber damals gab es halt noch keine Laieninstruktion!

Auch sonst verdrängt Lukas gern Streitigkeiten der Urgemeinde, die von Anfang an da waren, und tut immer wieder so, als sei die Urgemeinde stets einmütig und vorbildlich in der Nächstenliebe gewesen. Aber das war ganz und gar nicht so!

Es hätte auch sicher eine echte Spaltung der Urchristen gegeben, wären nicht die Hellenisten ausgewiesen worden und in alle möglichen Länder ausgewandert, wie die Apostelgeschichte anschließend beschreibt. Der Gegensatz zwischen der erzkonservativen, gesetzestreuen Apostelgemeinde und der aufgeschlossenen, „zugereisten" Hellenistengemeinde konnte ja auch nicht größer sein: für die Judenchristen stand es fest, daß Christus sehr bald wiederkommen würde. Deshalb hielten sie besonders streng am Gesetz fest, gingen regelmäßig zum Tempel und verlangten, daß jeder, der Christ werden wollte, sich zuerst beschneiden lassen mußte. Und weil ja bald die Welt zu Ende ging, hatten sie auch meist allen Besitz zusammengeworfen und großenteils an die Bedürftigen verteilt (was später dazu führte, daß Paulus im Ausland für die Gemeinde von Jerusalem eine Sammlung abhalten mußte). Sie unterschieden sich also praktisch nicht von den übrigen, nichtchristlichen Juden, und darum hatten sie auch eine ruhige Zeit, wie es im 9. Kapitel heißt. Die Heidenchristen dagegen glaubten nicht, daß sie auf die baldige Wiederkehr Christi warten müßten, sondern erhofften sich die Vereinigung mit ihm durch mystische Übungen, Zungenreden, sakramentale Riten - schon jetzt, und nicht erst in der Zukunft. Das jüdische Gesetz, die Beschneidung, ja sogar den Tempel lehnten sie ab - alles Gründe, warum die Hellenisten bald aus dem Lande vertrieben wurden und ihre Mission im heidnischen Ausland fortsetzten.

Stephanos, von dem in der heutigen Lesung die Rede ist, war so ein Hellenist und zugleich Mitglied der hellenistischen Gemeindevorstandschaft.

In einer flammenden Rede vor dem Hohen Rat, die leider im offiziellen Lesungstext gestrichen wurde, erklärt er den Tempelkult für unnütz: „Der Höchste wohnt nicht in dem, was von Menschenhand gemacht ist!" und zeigt anhand der Geschichte Israels, daß die Juden sich immer schon dem Wirken des Gottesgeistes verschlossen haben: „Ihr Halsstarrigen, ihr, die ihr euch mit Herz und Ohr immerzu dem Heiligen Geist widersetzt, eure Väter schon und nun auch ihr. Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten geweissagt haben, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid!"

Daß seine Zuhörer daraufhin mit den Zähnen knirschen, kann man sich gut vorstellen. Als er aber, in Ekstase geraten, auch noch den Himmel offen sieht und Jesus zur Rechten Gottes, reicht es den Ratsmitgliedern endgültig. Jetzt ist für sie der Tatbestand der Gotteslästerung erfüllt - nun braucht es kein ordentliches Verfahren mehr! Sofort vollstrecken sie eine „standrechtliche Hinrichtung"; mit Worten der Vergebung haucht Stephanos sein Leben aus.

Bei genauer Lektüre merkt man deutlich, daß Lukas bewußt Stephanos mit Jesus vergleicht. Bei beiden ist die Rede von „Menschensohn", „lautem Geschrei", vom „Rufen mit lauter Stimme"; beide tun voll Gnade und Kraft Wunder unter dem Volk, beider Weisheit konnte keiner widerstehen, beide werden vor dem Hohen Rat angeklagt, in beiden Fällen treten falsche Zeugen auf, beide sterben mit Worten der Vergebung auf den Lippen und schließlich bekommen beide als Sieger den „Siegeskranz" bei Gott.

Lukas macht damit deutlich: Stephanos hat den Geist Jesu begriffen, und so wie er - offen für den Willen Gottes und auf ihn vertrauend, standhaft und vergebungsbereit - sollten alle Christen sein. Aber weil ein Leben aus dem Geist Christi stets im Widerspruch zum „Geist dieser Welt" steht, erregt es Widerstand, ja sogar Haß. Jesus erging es so - im heutigen Mattäusevangelium wird das deutlich - und auch seinen wahren Nachfolgern muß es so ergehen!

Zum Schluß noch ein bezeichnendes Detail: Lukas erwähnt, daß der Pharisäerschüler Paulus auf die Kleider der Henker aufzupassen hatte, und ebenso, daß Paulus mit der Hinrichtung einverstanden war. Derselbe Paulus, der später, nach seiner „Bekehrung", genau dieselben hellenistischen, also liberalen, gesetzes- und tempelkritischen Vorstellungen vertreten hat wie Stephanos und seine Gefährten! Und wer das Neue Testament kennt, weiß auch, daß auch Paulus gewaltige Schwierigkeiten mit erzkonservativen Juden, sowie mit starren Judenchristen hatte, die jeden Heiden zum jüdischen Gesetz verpflichten wollten, bevor sie ihn zur Taufe zuließen.

Liebe Christen!

Bis heute hat sich noch nicht allzuviel geändert. Konservative Christen verdammen fortschrittliche, liberale verachten traditionelle - Ausgrenzungen, Exkommunikationen, Suspendierungen. Werden wir Christen jemals den Geist Christi erfassen, der der Geist der Toleranz, des Verständnisses, der Einheit - mit einem Wort: der Geist der Liebe ist? AMEN

AMEN

Zurück zur Predigtsammlung