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Weihnachten am Morgen

Thema: ... ein Fest für Aug' und Ohr!

Lesg./Ev.: Jes 62,11-12; Tit 3,4-7; Lk 2,15-20

gehalten am 25.12.1998 07:30h ESB von Eberhard Gottsmann, OStR

Liebe Gottesdienstbesucher, liebe Festgemeinde!

Vor etwa einer Woche wurde im Rundfunk mehreren Personen die Frage gestellt, was ihnen Weihnachten bedeute. Die einen antworteten ehrlich: „Eigentlich gar nichts - halt ein Fest wie jedes andere!", die anderen ebenso offen: „Der ganze Klimbim regt mich auf - ich bin froh, wenn das Ganze vorbei ist!" - und eine junge Studentin meinte: „Ich genieße vor allem den Gottesdienst. Natürlich habe ich mit dem Christentum nichts am Hut - aber die Weihnachtsmette - das ist doch ein Fest für Aug' und Ohr!"

Wenn Sie mich noch vor wenigen Jahren gefragt hätten, was ich von dieser Aussage halte, dann hätte ich bestimmt leidenschaftlich - aggressiv geantwortet: „Wenn jemand mit dem Inhalt, dem Wesentlichen nichts anzufangen weiß, dann steht ihm auch nicht zu, dieses Fest mitzufeiern!"

Mittlerweile bin ich anderer Ansicht geworden, denn ich habe inzwischen manches dazugelernt. Heute sage ich: „Warum denn eigentlich nicht? Warum soll diese Studentin nicht die herrliche Musik genießen, den Duft des Weihrauchs verkosten (manchen „Christgläubigen" wird ja davon übel), warum soll sie nicht den geschmückten Christbaum und die weihnachtlichen Dekorationen bewundern? Warum soll sie nicht mitmachen, wenn wir überzeugten Christen ein Fest feiern und unserer Freude mit allen Sinnen Ausdruck verleihen?

Woher kommt es denn, daß sich meine Meinung so gründlich gewandelt hat? Dieser Wandel hat mit einer anderen Kehrtwendung zu tun, nämlich mit einem neuen Verständnis des Weihnachtsfestes selbst, einer neuen Sicht.

Ich möchte Ihnen einmal vor-denken, welche Gedanken mir dabei durch den Kopf gegangen sind, und hoffe, daß Sie offen genug sind, diese Gedanken dann später nach-zudenken.

Kleine Babies gab und gibt es genug auf der Welt, auch Kinder armer und einfacher Leute. Und daß nette Nachbarn - beispielsweise Hirten oder Handwerker oder Angestellte - einen Besuch machen, Geschenke mitbringen und sich mit den glücklichen Eltern freuen, das ist auch nichts Neues. Deswegen bräuchten wir diesem einen, speziellen Kind nicht mit einem weltweiten Fest zu gratulieren. Warum wir das tun, hat einstweilen noch nichts mit einem Säugling zu tun - der Grund liegt vielmehr im erwachsenen, etwa dreißigjährigen Jesus!

Dieser jüdische Handwerker, der plötzlich begeistert und begeisternd durch die Lande zog, hat uns Menschen eine völlig neue Hoffnung gegeben, eine völlig neue Sicht der Welt und des Menschen - und vor allem: eine neue Sicht, wie wir uns Gott vorzustellen haben!

Von Natur aus sind ja fast alle Menschen religiös (ob sie es so nennen oder nicht); von Natur aus glaubt praktisch jeder an ein höheres, mächtiges Wesen. Das ist ja an sich recht positiv - wenn, ja wenn wir nicht automatisch unsere menschlichen Vorstellungen auf dieses „göttliche Wesen" projizieren würden! „Wie der Schelm ist, so denkt er", könnte man sagen; wie wir es untereinander und von uns selbst gewohnt sind, das glauben wir auch natürlicherweise von diesem Höheren Wesen.

Und wie sind wir Menschen?

Zunächst einmal gründlich egoistisch, besitzgierig, ehrsüchtig und rachsüchtig. Folglich muß auch Gott so sein: „Wozu sind wir auf Erden? Wir sind auf Erden, um Gott zu loben und zu preisen", so kann man in Katechismen lesen oder in Predigten hören. Und das soll nicht egoistisch und ehrsüchtig sein: ein Gott erschafft den Menschen nur, damit er von ihm seinen Ruhm zu hören bekommt? Auch wenn es sich dabei um einen Gott handelt, der sicher das Recht hätte, so zu sein und so etwas von uns zu verlangen - es ist und bleibt Egoismus. Welcher Unterschied ist da noch zu den babylonischen Göttern, die den Menschen nur deshalb geschaffen haben, um von ihm mit Nahrung versorgt zu werden?

Und weiter: da wir Menschen nun mal besitzgierig sind, kann doch auch Gott nicht anders sein! Wenn wir ihm aber Opfer darbringen (vom Stier bis zur Votivkerze), dann könnten wir ihn doch ein wenig milde stimmen; vorausgesetzt natürlich, er merkt die Tricks nicht, die wir dabei oft anwenden, um etwas billiger davon zu kommen.

Und weil wir Menschen rachsüchtig sind, so kann auch Gott nur rachsüchtig sein. Wir nennen es allerdings anders (auch im zwischenmenschlichen Bereich)! Wir sagen manchmal „Gerechtigkeit" dazu, meinen aber damit, daß ein Bösewicht sein Fett abkriegen muß - sonst haben wir immer ein unbefriedigtes Gefühl. Wir sagen auch manchmal „Vergeltung" dazu - ein besonders elegantes Wort, das sich viel schöner als „Rache" anhört. Wenn Sie wollen, können Sie auch „Strafe" sagen; nur selten wird dieser Begriff in der ursprünglichen Bedeutung gebraucht, nämlich „Straffung" - meist bezeichnet er ebenfalls nur pure Rache.

Und schließlich das Wichtigste: da wir Menschen Liebe nur bedingungsweise verteilen (nach dem Motto: „Ich mag dich nur, wenn..."), obwohl jeder von uns gerade dann angenommen und geliebt sein möchte, wenn er etwas falsch gemacht hat und ein schlechtes Gewissen hat - deshalb halten wir auch Gott für ein Wesen, das uns nur liebt, wenn... Wenn wir Gesetze halten, beispielsweise. Wenn wir keine Sünde begehen, beispielsweise. Wenn wir möglichst viel beten, beispielsweise. Wenn wir die Lehrsätze glauben, die wir lernen mußten, beispielsweise.

Und wozu führen all diese Gottesvorstellungen, diese „Gottesbilder"? Zu nichts anderem als Angst, Unfreiheit, Unerlöstheit, Zwängen, Gewissensqualen. Und umgekehrt - diese Gottesbilder kann man auch prima benutzen, um andere in noch mehr Unfreiheit, in noch mehr Abhängigkeit und Angst zu versetzen. Die Geschichte - auch des Alten Testaments - ist voll von Beispielen dieser Art.

Und nun sagt uns dieser Handwerker aus Nazaret, daß wir all diese menschlichen Vorstellungen vergessen können! Keine, aber auch gar keine der genannten projizierten Eigenschaften treffen auf Gott zu! Denn in Wahrheit ist Gott unendliche, unverlierbare, unbedingte Liebe - er besteht sozusagen aus purer Liebe. Und diese Liebe beschränkt er gerade nicht auf die „Guten", die „Frommen" und „Braven" - im Gegenteil: gerade die Bösartigen, die Lieblosen, die Verbrecher liebt er besonders, weil sie seine Liebe auch mehr als die anderen brauchen. Logisch, daß Gott niemanden zwingen kann, diese unbegreifliche Liebe auch anzunehmen, denn gerade Liebe kennt keinen Zwang und keine Einschränkung der Freiheit! Aber diese Liebe ist stark genug, um schließlich alles zu überwältigen, auch verbohrte und verstockte Egoisten.

In immer neuen Bildreden und Symbolhandlungen wirbt er für dieses neue Gottesverständnis, wirbt er um unbegrenztes Vertrauen dieser Liebe gegenüber - und schließlich läßt er sich zum Zeugnis dieser unendlichen Liebe sogar foltern und umbringen, sozusagen mit den Worten auf den Lippen: „Und Gott liebt euch doch!"

Daß Jesus mit alledem recht hatte, zeigt auch seine Auferweckung durch Gott: Liebe läßt nie jemanden fallen, überläßt nie jemanden dem Nichts, trennt sich nie von etwas auf Dauer!

Und noch etwas hat Jesus deutlich gemacht, etwas, das auch mir erst ganz allmählich aufgegangen ist: Dieser Gott „kommt" überall in unserem Leben „vor"! Nämlich überall, wo Liebe erfahren oder weitergegeben wird, ist ER selbst; denn wirkliche Liebe kann nicht von uns Menschen erzeugt werden - wirkliche, echte Liebe ist immer nur ER! Wenn wir das einmal verstanden haben, dann gibt es keine wirkliche Einsamkeit, keine Angst und keine Gewissensqual mehr - dann sind wir (jetzt schon!) erlöst!

Ich hoffe, daß jetzt klar geworden ist, daß Weihnachten, das Geburtsfest eines kleinen Jungen namens Jeschua, für sich eigentlich gar nichts bedeutet - genauso wichtig oder unwichtig wie jede Geburt eines Erdenbürgers. Erst vom Leben, Sterben und der Auferweckung her hat die Geburt dieses Kindes seine Bedeutung - und diese Bedeutung haben vor allem Lukas und Mattäus in immer neuen, herrlichen Bildern deutlich gemacht.

Wenn wir uns also über das Geburtsfest Jesu freuen, wenn wir ein „Fest für Aug' und Ohr" veranstalten, dann feiern wir eigentlich die unendliche, unverlierbare und unbedingte Liebe Gottes, die wir ohne Jesus nicht erfahren hätten. Und warum soll da nicht unsere „ungläubige" Studentin mitfeiern dürfen, wo sie doch auch in der Festfreude, in der Schönheit der Musik, der Farben und Formen SEINE Liebe erleben kann - auch wenn sie noch nicht weiß, daß auch sie „erlöst" ist?

AMEN

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